Die Standardweiche

Dieser Artikel erschien in der MIBA 5/1993. Spätere Aktualisierungen, z.B. wegen neuer Modelle oder neuer Erkenntnisse, sind rot gekennzeichnet.

Die bei weitem häufigste Weiche der deutschen Eisenbahnen ist die 190 - 1:9. Es gab sie schon bei allen Länderbahnen, sie wurde von der DRG mit dem schwereren Schienenprofil S49 neu konstruiert und von der DB in mehreren Schritten weiterentwickelt. Es gibt sie mit allen Schienenprofilen außer UIC60 - dafür wären die Zungen zu lang -, mit allen Schwellenarten, auch alle Zungen- und Herzstückbauarten sind bei dieser Weiche zu finden. Sie verdient also, dass wir ihr ein eigenes Kapitel widmen.

Zuerst stellt sich natürlich die Frage, warum gerade dieser Radius, warum gerade diese Endneigung? Bei den Länderbahnen waren ursprünglich völlig verschiedene Weichen als Standard eingeführt, in Preußen beispielsweise 245 - 1 : 10, in Württemberg, Bayern, Baden oder Sachsen hingegen 1 : 8 mit jeweils etwas verschiedenen Radien.

Als sich die Länderverwaltungen um eine gewisse Standardisierung bemühten, wollte man verschiedene Kriterien erfüllt sehen: Die Weiche sollte möglichst steil sein, damit die Weichenstraßen nicht zu lang würden, dennoch durfte der Radius nicht zu eng werden, damit die Lokomotiven, die ja immer schwerer wurden und deswegen immer achsreicher, ohne Zwängen durchfahren konnten, den Zwängen bedeutet erhöhten Verschleiß. Ein weitere Grenze setzte die Sicherheit der doppelten Herzstücke in Kreuzungen, und hier ergaben die Erfahrungen, dass die preußische Kreuzung 1 : 10 eine deutlich höhere Entgleisungsgefahr darstellte. So landete man bei 1 : 9, das heißt, einem Endwinkel von 6,34 = 6 20' 25".

Der Weichenbogen musste nach damaligen Erkenntnissen vor dem Herzstück enden, da man eine Herzstücklücke im engen Bogen damals noch für ein Entgleisungsrisiko hielt, erst später lernte man die Bedeutung des Radlenkers und seines Abstandes vom Herzstück richtig einschätzen. Der zweite wichtige und heute noch gültige Grund ist der, dass bei Gleisabständen von 4 m und weniger - Preußen hatte damals noch 3,5 m als Regelabstand! - die notwendige Zwischengerade zwangsläufig im Bereich der Herzstücke liegt. Deswegen hat die Regelweiche der deutschen Eisenbahnen bis heute ein gerades Herzstück - im Gegensatz zu den meisten Modellgleissystemen.

Bei gebogenen Herzstücken läuft der Weichenbogen durch das Herzstück durch, eine Fahrkante des Herzstückes ist also gekrümmt. Am Anfang des Weichenbaues vermied man solche Konstruktionen völlig, weil man Entgleisungen im Herzstück befürchtete. Bei den Weichen mit größeren Radien traute man sich dann mit der Zeit doch, z.B. bei den einfachen Weichen mit 300 m oder 500 m Radius sowie bei Bogenweichen. Erst 1929, bei der Konstruktion der Reichsbahnweichen, ließ man auch den Bogen von 190 m durch das Herzstück durchlaufen, weil Untersuchungen, die die DRG anstellte hatte, ergeben hatten, dass es lediglich auf die richtige Einstellung der Radlenker ankommt, damit auch diese Herzstück entgleisungssicher befahren werden können.

So entstand die Steilweiche 49 - 190 - 1:7,5. Die Neigung von 1:7,5 = 7,595° = 7° 35' 41" ist gleich hinter dem Herzstück erreicht, und deswegen wählte man für die erste Ausführung der Weiche ein Blockherzstück (Näheres hierzu in einer späteren Folge). Die Nachteile des Blockherzstückes: zusätzliche Schienenstöße, Befestigungsprobleme, hoher Verschleiß, führten dazu, dass bald nach einer besseren Lösung gesucht wurde. So entwickelte man eine Ausführung, deren Zweiggleis hinter dem Ende des Bogens noch 4,817 m gerade weitergeführt wird, ebenso natürlich das Stammgleis, damit war der Einsatz eines Schienenherzstückes auch hier möglich.

Diese neue Konstruktion hatte einen weiteren Vorteil: Der Bogen ließ sich auch weiterführen. So entstand als weitere Standardneigung 1:6,6 und damit die Weiche 49- 190 - 1:6,6, die, von einigen abweichenden Schwellen abgesehen, aus genau den gleichen Teilen besteht wie die 49 - 190 - 1:7,5. Da die Weiche mit Neigung 1 : 6,6 eine Ableitung der Grundform mit der Neigung 1:7,5 darstellt, wird dies in der Bezeichnung oft dadurch ausgedrückt, das die Grundneigung und die Ableitung nacheinander aufgeführt werden, so dass die Weiche ganz offiziell so heißt: 49 - 190 - 1:7,5/6,6.

Natürlich kann der Bogen auch durch die ganze Länge der Weiche durchgeführt werden. Dann entsteht eine Endneigung von 1 : 6,285 oder aufgerundet 1 : 6,3. Da sie so in Weichenstraßen nicht verwendet wird, findet man sie bei DRG und DB nicht als eigene Bauform aufgeführt. Die DR allerdings gab sie in ihren Weichenbüchern an.

Auch die Neigungen, die bei den Länderbahnen üblich waren, ließen sich auch dieser Weiche bequem herstellen, vor allem 1:7 und - mit verändertem Herzstück - sogar 1:8.

Unten finden Sie Abbildungen der drei oben beschriebenen Weichen. Dabei ist jede mit einer anderen Zungenbauart dargestellt (Gelenkzunge, Federzunge, Federschienenzunge). An der Linie A - A können Sie die Zeichnung auseinanderschneiden - bis zur Einführung der Schweißtechnik im Weichenbau konnte man die Weichen hier tatsächlich auseinanderschrauben, und die recht häufig zu findenden älteren Bauarten lassen dies auch heute noch zu. Die in der MIBA veröffentlichten Zeichnungen waren noch am Reißbrett gezeichnet. Heute macht man sowas natürlich mit Autosketch, aber das muss ich für diese Weichen noch nachholen. Die so entstehenden Teile können Sie beliebig kombinieren, genau wie es das Vorbild auch tut; auch die zu diesen Weichen passenden Kreuzungen und Kreuzungsweichen 1 : 9 benutzen dieselben Teile. Einige Modellgleissysteme haben diese "Modul"-Technik im Weichenbau dem Vorbild abgeschaut, zuerst das PILZ-Gleissystem, später die Weichen von ADE; auch ein Teil der LIMA-Weichen mit Code-83-Profilen greifen auf diese Methode zurück.

Eine weitere Besonderheit wird beim Betrachten der Zeichnungen deutlich: Bei der EW - 190 - 1:9 liegt ein Teil der zur Weiche gehörenden durchgehenden Langschwellen nicht mehr unter der eigentlichen Weichenfahrbahn, sondern unter den (gestrichelt gezeichneten) anschließenden Schienen. Dies ist bei allen deutschen Weichenbauarten so, mit einer einzigen Ausnahme: der EW - 190 - 1:7,5 und den hiervon abgeleiteten Bauformen, hier liegen alle Langschwellen noch unter der Weichenfahrbahn. Dies macht diese Weiche für die Nachahmung im Modell besonders attraktiv - siehe die 15-Grad-Weiche aus dem ROCOline-Programm. Die anderen Weichen, insbesondere die eigentliche Standardweiche EW - 190 - 1:9, stellen den Hersteller von Modellweichen vor ein konstruktives Problem, sofern nicht - wie bei den oben genannten Firmen - Weichenanfang (die Zungen) und Weichenende (das Herzstück) voneinander getrennt werden.

Die Zeichnung sind übrigens genau im Maßstab 1 : 87 gehalten, aber hinsichtlich einiger Abmessungen an die verfügbaren Materialien und die Modellverhältnisse in H0 angepasst, dies gilt z.B. für die Breite des Schienenfußes oder für die Rillenweite des Herzstücks, d.h. genauso sähe die Weiche aus, wenn Sie sie in H0 nachbauten - und wie das geht, zeigen wir Ihnen einige Folgen später. Im nächsten Heft werden wir uns zunächst einmal mit den industriell hergestellten Modellweichen beschäftigen.

Übersicht Vorbildfotos
168405
Weichenstraße
188926
EW-49-1:9
150019
EW-54-190-1:9
150302
EW-49-190-1:9
188930
Endteil 1:9
EW-49-190-1:9
EW-49-190-1:9
EW-49-190-1:6,6
EW-49-190-1:6,6
152724
EW-190-49-1:9
151517
214511
L1001234
EW-49-190-1:7,5/6,6
179825
EW-54-190-1:7,5/6,6-Bn